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GRUNDGEDANKE DER WISSENSCHAFTLICHEN SCHACHTHEORIE
Schach ist ein deterministisches System: die Wirkung jedes Ereignisses (Zuges) ist genau festgelegt. In einem System mit bekannten Gesetzen (Regeln) kann man normalerweise, wie in der Physik, aus einem Systemzustand dessen Folgen berechnen ("Prinzip Schlussfolgern"). Kann man dies nicht, so gilt das betreffende System als Chaos, und die Folgen eines Systemzustands können nur dadurch bestimmt werden, dass man den Ereignissen (Regelanwendungen) Schritt für Schritt nachgeht ("Prinzip Probieren"). Das menschliche Denken im Schach folgt primär dem Prinzip Schlussfolgern, während Probieren (Variantenrechnen) eine untergeordnete Rolle spielt. Umgekehrt arbeiten die Computer-Schachprogramme im Wesentlichen nach dem Prinzip Probieren (Spielbaum-Suche), während Schlussfolgern nur in den Bewertungsfunktionen wirksam ist (– Endspieldatenbanken sind eine reine Inkarnation des Chaosprinzips). Beide Methoden, die des Schachmeisters wie die der Schachcomputer, sind – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – unvollkommen, da sie nicht in der Lage sind, beweiskräftig die absolut besten Züge zu finden.
Das Schachspiel steht also zwischen Logik und Chaos. Aber die traditionelle Schachtheorie, die ja ein Ausdruck des menschlichen Schachdenkens sein sollte, bleibt hinter den Fähigkeiten des Schachmeisters weit zurück. Das hat vor allem zwei Gründe: Erstens ist das Schachverständnis des Meisters teilweise unbewusst (unformuliert, "intuitiv"). Zweitens sind die Schachtheoretiker zu sehr in der Praxis befangen und haben es nie geschafft, ihren Kopf in die freie Luft des theoretischen Denkens zu erheben. Eine wissenschaftliche Schachtheorie (wST) erfordert dagegen große begriffliche Anstrengungen, deren Bezug auf das praktische Spiel nicht unmittelbar sichtbar ist (so wie man einer biochemischen Analyse nicht ansieht, dass ihr Ergebnis etwa die Funktion des Gehirns erklären oder zur Herstellung eines Medikaments verwendet werden kann).
Die wST versucht zum einen, das Wissen des Schachmeisters exakt zu formulieren und eben dadurch, zum zweiten, es zu übersteigen in Richtung auf eine vollkommene Schachtheorie, d.h. eine Theorie, die die richtigen Züge im strengen Sinne deduzieren kann. Der Aufbau einer wST erfordert tragfähige begriffliche Fundamente, vor allem bezüglich des Schachbretts als solchem (Schachgeometrie) und der Steine. Das bisherige Programm von Rainer Seidel wird in 4 Büchern dargelegt:
Band 1 (erschienen 1987) begründet das Projekt Schach als Wissenschaft und führt insbesondere in die allgemeine Handlungslogik des Schachs ein. Band 1 wird ergänzt durch den Anhang (zur Kognitiven Architektur der Schachtheorie) in Band 2.
Band 2 (erschienen 2002) beschreibt den schachlichen Raum, d.h. das Schachbrett.